Es gibt ein Anderswo

Das Tal, das Móchenisch spricht

Das Valle dei Mòcheni, das sich an zwei Berghängen entlang erstreckt, öffnet sich lautlos, mit dem Fersina-Bach am Grund, der zu seinen Füßen entlangfließt.  

Oberhalb des engen Talbodens liegen auf der einen Seite die Dörfer Frassilongo (Garait), Roveda (Oachlait) und Fierozzo (Vlarotz) und auf der anderen Seite Palù del Fersina (Palai en Bersntol).

Der Wald erstreckt sich bis zu den Weiden, bis über die Dörfer hinaus. Nur wenige Häuser, nur wenige Dächer. Die schöne Kirche Santa Maddalena in Palai en Bersntol ragt empor.

Auf dem kleinen Platz vor der Dorfbar, wo die Straße flach wird, jagen sich Stimmen. Es handelt sich um eine alte bayerische Sprache, die von den Siedlern gesprochen wurde, die im Mittelalter hierherkamen. Es ist die Sprache der Mòcheni.

Valle dei Mòcheni | © Daniele Lira

Geheimnisvolle Worte

Wenn du das Valle dei Mòcheni durchwanderst, hörst du Worte und Geräusche, die von weit her kommen. 

Wenn du Deutsch sprichst, werden dir die Begrüßungen „Guatmorng“ und „Gèltsgott“, sowie die kleinen Höflichkeitsfloskeln sicher vorkommen. 

Einige Wörter sind das Ergebnis einer im Laufe der Zeit erfolgten Vermischung der alten deutschen Sprache Bayerns mit der italienischen Sprache und dem Trentiner Dialekt. 

Der österreichische Schriftsteller Robert Musil war während seines Aufenthalts im Valle dei Mòcheni derart beeindruckt von der Sprache der Mòcheni, dass für ihn deren Wörter –von denen einige geheimnisvoll und magisch klangen – den Zugang zu einer anderen Welt, zu einem Anderswo, darstellten.

Valle dei Mòcheni | © Daniele Lira

Den Wald erleben

Lem der bòlt bedeutet „den Wald erleben“.  

Die Mòcheni leben seit jeher in engem Kontakt mit dem Wald. Sie suchten Pilze, gingen auf die Jagd, wanderten zu den Gipfeln oder sammelten Holz.  

Auch das Dach (s dòch) des Bauernhofs (heff) stammt aus dem Wald: Es wurde aus astlochfreien, gerade geschnittenen Lärchenholzschindeln (de schintln) gefertigt. Sie wurden mit Baumstämmen und Steinen befestigt, damit Wind und Schnee das Dach nicht abtragen konnten. Aus Holz waren auch die Dalmedre (kospm) gefertigt – Schuhe mit Sohlen aus Lärchen- oder Fichtenholz, die mit Nägeln beschlagen wurden, um Eis und grasbewachsene Hänge zu bewältigen.

Valle dei Mocheni -Fierozzo | © ChristianKerber

Ein Ort, der schenkt

Der Wald war und ist ein solcher Ort: ein gelebter Raum, der sich immer wieder regenerieren kann und den Menschen mit lebendigem Material versorgt. Ein Material, das sich beispielsweise noch heute in den Häusern von einst findet –  in den Bauernhöfen, die die bäuerliche Architektur vergangener Zeiten bewahrt haben.

Die Details im Valle dei Mocheni zeugen noch heute von der tiefen Verbundenheit der Gemeinschaft mit dem Wald, von Fleiß, Fantasie und von einer Sprache, die die Erinnerung an diejenigen bewahrt, die vor Jahrhunderten in diesen Bergen eine neue Heimat gefunden haben.

Das Valle dei Mòcheni

Zwischen Mythos und Realität
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Veröffentlicht am 05/12/2025