Von der Front zum verzauberten Tal

Musils Trentino: eine mächtige Offenbarung

Bevor Robert Musil zum großen Autor von „Der Mann ohne Eigenschaften“ wurde, fand er im Valle dei Mòcheni den Keim für seine Theorie des „anderen Zustands“, also jenem alternativen Zustand zur Realität, der es dem Individuum ermöglicht, mit seiner Umgebung zu verschmelzen.

Ein Leutnant auf der Suche nach sich selbst

Sommer 1915.
Musil, ein Leutnant der österreichisch-ungarischen Armee, kommt als überzeugter Interventionist ins Trentino - damals Südtirol -.
Er will seine Unabhängigkeit behaupten, aber auch eine heroische Idee vom Leben verfolgen, die dem Chaos der Welt einen Sinn geben kann.

Dennoch macht sich schon Ernüchterung breit.
Auf dem Colle di Tenna überfliegt ein italienisches Flugzeug seine Patrouille und wirft ein Bündel Stahlspeere ab. Einer davon berührt ihn. Er tötet ihn zwar nicht, reißt aber eine Wunde auf, die seinen Blick für immer verändern wird.

Baraccamenti militari lungo la strada in loc. Lenzer e sullo sfondo la chiesa di S. Maria Maddalena | © Istituto Culturale Mòcheno

Die Begegnung mit dem "Verzauberten Tal“

Ein abgelegener Ort, an dem die Zeit stehen geblieben ist und die Berge zu atmen scheinen. Hier, inmitten von Stille und archaischen Präsenzen, findet Musil eine "andere" Welt, die er später das verzauberte Talnennen wird.

Aus dieser Erfahrung heraus entsteht Grigia, die 1921 veröffentlichte Novelle.
Es ist die Geschichte von Homo, einem Geologen, der vom Unternehmer Hoffingott ausgesandt wird, um nach Goldvorkommen zu schürfen. Er zieht los, lässt Frau und Kind hinter sich und ist mit schon gebrochener Seele bereit, ein neues Licht zu empfangen.

Lena Maria Lenzi, "die Grigia“

Das Tal empfängt ihn ohne Misstrauen. Die Neuankömmlinge bringen Arbeit, und die Einwohner reagieren mit Neugier und Schlichtheit.
Die Natur ist hervorragend, die Frauen unerwartet expansiv. Vor allem eine.

"Sie hieß Lene Maria Lenzi; das klang wie Selvot und Gronleit oder Malga Mendana, nach Amethystkristallen und Blumen, er aber nannte sie noch lieber Grigia, nach der Kuh, die sie hatte."

Eine geheime Beziehung aus heimlichen und unvermeidlichen Begegnungen entsteht.
Im Laufe der Tage verliert Homo den Kontakt zu seinem früheren Leben, wie der Protagonist in Conrads Herz der Finsternis.
Aber hier gibt es keinen Horror - nur süße, mystische, totale Hingabe.
"Es waren Tage der Hochzeit und der Aufnahme in den Himmel".

Robert Musil und das verzauberte Tal: wo "Grigia" entstanden ist  | © Istituto Culturale Mocheno - Thien Günther

Der Herbst, das Bergwerk, das Ende

Dann kommt der Herbst.
Grigia sagt ihm, dass alles ein Ende haben muss. Inzwischen scheitert auch das Bergbauunternehmen.
Es bleibt Zeit für ein letztes Treffen in einem verlassenen, in einen Alkoven verwandelten Bergwerk. Dort überrascht der Ehemann der Frau die beiden Liebenden.
Ihr gelingt es, sich zu retten. Homo nicht. Er bleibt regungslos, gefangen in den Tiefen der Erde, des Steins, des Bergwerks, als ob er dieses Schicksal als Teil der natürlichen Ordnung des Tals akzeptierte, als Teil jener antiken Kraft, die ihn aufgenommen und schließlich verschlungen hat.

 

Die Rückkehr von Musil

Musil hingegen rettet sich.
Nach Monaten im Valle dei Mòcheni überquert er den Isonzo und Wien und landet schließlich in Bozen, wo er seine Frau Martha wieder trifft.
Im Jahr 1916 wird er Direktor der Tiroler Soldaten-Zeitung, dem Truppenblatt, und schreibt weiterhin patriotische Artikel.

Erst später, in dem monumentalen Werk Der Mann ohne Eigenschaften, kommt seine Enttäuschung über den Krieg und den Zusammenbruch des Reiches voll zum Ausdruck.

Aber Grigia wird für immer ein außerordentlich lebendiges, intensives und eindrucksvolles Porträt des Valle dei Mòcheni, seiner Natur und seiner Menschen bleiben.

Ein Tal, das damals wie heute immer wieder Stille, Geheimnis und Offenbarung bringt. 

Valle dei Mòcheni

Zwischen Mythos und Realität
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Veröffentlicht am 25/11/2025