Ein Milligramm Weisheit
Das Leben, das die Gletscher bevölkert.
Ich liebe diese Kälte, die bis in die Knochen oder in das Exoskelett eindringt... Ein Spiel, ein Tanz, ein Leben, ein Atemzug. Ich heiße Diamesa zernyi, Eisfliege für die Kenner. Ich bin ganz klein, aber wer mich sieht, verliebt sich! Wegen meiner zarten Flügelchen und meinem Schnäuzchen - den großen Augen, den Fühlern... Man braucht eine gute Lupe, um mich in meiner ganzen Pracht zu bewundern.
Wirklich faszinierend ist jedoch meine Lebensweise: Ich lebe nicht nur problemlos bei Temperaturen unter Null, sondern ich kann sogar einfrieren und die Zeit anhalten. Meine Larve kann monatelang völlig eingefroren in einem Zustand des Winterschlafs verharren -und dann wieder erwachen, als wäre nichts geschehen
Das ist sehr faszinierend, ich wiege weniger als ein Milligramm. Interessant bin ich auch wegen der Frostschutzproteine, die ich produziere, um extremer Kälte zu widerstehen. Sie ähneln denen der antarktischen Fische. Die Wissenschaft beginnt gerade erst zu verstehen, wie nützlich sie sein können. Sie kommen in allen Gletschern vor, aber nur wir Gletscherinsekten wissen, wie wir sie am besten nutzen können.
In letzter Zeit hat jedoch die Wärme begonnen, mich zu quälen. Ich erkenne gewisse Orte nicht mehr, die ich einst aufgesucht habe, um Erholung zu suchen oder einfach nur eine Weile eingefroren zu überwintern. Früher war dort Eis, jetzt nicht mehr. Das kann ich mir nicht erklären. Haben sich die Menschen vielleicht Sorgen um mich gemacht, dass es mir zu kalt sein könnte, und versucht, die Berge zu erwärmen? "Nein, nein, bitte tut das nicht!" .
Die Gletscher ziehen sich zurück. Wenn das Wasser zu warm wird, überlebe ich nicht. Die Arten, die früher im Tal lebten, weichen jetzt auf der Suche nach Frische in größere Höhen aus - wie jene, die aus Rom oder Mailand ins Trentino kommen, denn wer will schon dort bleiben und zergehen, wie ein geschmolzenes Eis inmitten von Beton? Und ich, zusammen mit allen Freunden - Bakterien, Larven, Insekten, Spinnen und anderen kleinen Lebewesen, die die Gletscher bewohnen - habe meine Koffer gepackt und mich auf den Weg nach oben gemacht. Nur schade, dass die Berge einen Gipfel haben, und wenn sein Ende erreicht ist, geht es nicht mehr weiter nach oben. Gipfelfalle wird das genannt! Ein schöner Reinfall! Es stand in den Fußnoten zur globalen Erwärmung, doch diese Klauseln bekam ich nicht zu lesen. Übrigens hat mich ja niemand gefragt, bevor sie begannen, den Planeten zu überhitzen, auf dem zufällig auch ich lebe.
Wir Gletscherkreaturen sind ganz zahlreich, viel mehr als man sich vorstellen kann. Wir haben gelernt, zu überleben, wo kein anderer überleben kann, wir sind hoch spezialisiert. Nur weil wir klein sind, sind wir nicht unwichtig, ganz im Gegenteil! Jedes Lebewesen spielt eine grundlegende und unersetzliche Rolle im Ökosystem. Alle Ökosysteme hängen miteinander zusammen. Mit dem Verschwinden des Gletschers zerbricht das ökologische Netz, das meine Existenz möglich gemacht hat. Verzeihen Sie mir, wenn ich pingelig bin, aber ich habe überhaupt keine Lust zu verschwinden.
Ich mag nur eine Mücke sein, fast unsichtbar im Rausch der Normalität, aber dieses Milligramm meiner Weisheit ist ein Geschenk, solange es existiert, für mich, für den Planeten und für uns alle.
Die Eisfliege